Vom Igel, der auszog, ein Mensch zu werden

Eine Fabel über den Weg zu sich selbst

Es war einmal ein kleiner Igel, der war nicht zufrieden mit seinem Leben. Er wuselte jede Nacht durch die Büsche und Vorgärten und suchte nach Insekten. Der Igel wohnte in einem schönen Nest und sein Jagdgebiet war so ertragreich, dass er nie hungern musste. Er hatte sich sogar eine schöne Speckschicht für den Winter angefressen.

„Ich habe ein tolles Leben“ versuchte er sich zu beruhigen, wenn er tagsüber in seinem Nest wachlag und nicht schlafen konnte, weil sein Herz vor Sehnsucht brannte. Er verstand sich oft selbst nicht, denn schließlich hatte er alles, was er zu einem komfortablen Leben brauchte. Doch da war eine Stimme in seinem Inneren, die ihn einfach nicht in Ruhe ließ. Er hatte alles versucht, um sie loszuwerden: Er hatte laut geschnauft, um sie zu übertönen, seine Stacheln warnend aufgestellt und schließlich sogar nach ihr geschnappt. Der kleine Igel hatte sogar zum Äußersten gegriffen, um den Störenfried in seinem Kopf loszuwerden: Er hatte pro Nacht drei ganze Eier verspeist, dazu Berge von Insekten. Vielleicht, so sagte er sich, war kein Platz mehr für die Stimme, wenn sein Magen den ganzen Körper ausfüllte.

Eine merkwürdige Stimme

Doch die Stimme kam immer wieder und mit ihr eine Sehnsucht, die ihn sogar tagsüber aus seinem Nest trieb. Die Stimme sagte: „Da ist noch mehr! Das kann doch nicht alles gewesen sein. Da ist ein Licht in dir, daran musst du dich nur erinnern!“

Diese Aussage fand der kleine Igel sehr verwirrend. Mit Licht konnte er ohnehin nicht viel anfangen, immerhin lebte er ja in der Dunkelheit und war eigentlich ganz zufrieden damit. Doch die Stimme sagte auch „du bist etwas Besonderes“ und das konnte der Igel nun erst recht nicht verstehen. Immerhin war er ein ganz gewöhnlicher Igel mittlerer Größe und nicht einmal mit besonders langen Stacheln.

Er versuchte, die Stimme zu ignorieren, aber es funktionierte nicht. Weil sie recht hatte. Etwas FEHLTE ihm.

Die Idee

Eines Tages lag der Igel wieder einmal wach und blinzelte neugierig ins Tageslicht. Und dann hatte er eine Idee: Vielleicht lag die Lösung seines Problems ja da? Vielleicht musste er versuchen, am Tag wach zu sein?

Einen Versuch war es wert. Mühsam kämpfte sich der kleine Igel aus seinem Nest und schlüpfte hinaus ins Sonnenlicht. Puuh, schön war das nicht. Das grelle Licht stach in seine Augen, es war viel zu warm und der kleine Igel spürte, wie ihm übel wurde. Doch er blieb tapfer stehen, nieste einmal entschlossen und trippelte dann etwas schüchtern über den hell erleuchteten Rasen des Vorgartens, in dem sein Nest lag.

Die Stimme in seinem Inneren war nicht einverstanden mit dem, was er da tat. Doch er fauchte, bis sie schwieg. Heute würde er sein Leben ändern. Heute würde er etwas BEWIRKEN.

Die große Entdeckung

Irgendwann kam der Igel zu einer großen, glitzernden Fläche in der Wand des Hauses. Nachts war sie immer schwarz, doch jetzt sah er zu seinem Erstaunen, dass man hindurchsehen konnte und dass auf der anderen Seite ein riesiges Nest lag, in dem Menschen wohnten. Und verborgen in einem wuchernden Blumenbeet hatte der kleine Igel zum ersten Mal die Gelegenheit, diese merkwürdigen Wesen zu beobachten, mit denen er seinen Garten teilte.

Und der kleine Igel staunte. Zugegeben, diese Wesen sahen höchst merkwürdig aus und er konnte sich nicht vorstellen, dass es bequem war, auf den Hinterbeinen zu laufen. Doch sie hatten etwas, was sein kleines Herz ganz schnell schlagen ließ. Er sah, wie sich ein weiblicher Mensch zu einem Jungtier-Mensch hinunterbeugte, ihn berührte und ihm in die Augen sah. In diesem Blick und der Bewegung lag etwas so Vertrautes, dass der Igel vor Erregung all seine Stacheln aufstellte. Er hatte keinen Namen für das Gefühl, das er dort gerade beobachtet hatte. Er wusste nur, dass es warm und weit war und genau das, wonach er gesucht hatte.

Ein Entschluss mit Folgen

Er blieb den ganzen Tag dort sitzen, keuchte in der Wärme und beobachtete die Menschen. Als er schließlich vollkommen erschöpft in sein Nest zurückkehrte, stand sein Entschluss fest: Er würde ein Mensch werden, koste es, was es wolle.

Von da an konnte nichts den Igel in seinem Entschluss aufhalten. Er stand jeden Morgen ächzend bei Sonnenaufgang auf, obwohl er fürchterlich müde war. Und er ging jeden Abend bei Sonnenuntergang schlafen, obwohl er bei Dunkelheit so schlecht schlafen konnte. Er wollte das Geheimnis dieser Menschen knacken und ganz sicherlich begann es damit, bei Tageslicht wach zu sein und auf zwei Beinen zu laufen.

Der kleine Igel begann, all seinen Winterspeck zu verlieren, denn tagsüber war es so viel schwerer, auf die Jagd zu gehen. Außerdem hatte er viel weniger Zeit, denn er übte beständig, auf den Hinterbeinen zu gehen und das erwies sich als außerordentlich schwierig. Mittlerweile konnte er zwar beide Vorderpfoten für eine kurze Spanne vom Boden heben, aber vom Gehen war er noch weit entfernt und es wollte einfach nicht besser werden.

Die große Dunkelheit

Die Tage und Wochen vergingen, der Igel wurde dünner und irgendwann war auch das letzte bisschen Enthusiasmus verflogen. Irgendetwas stimmte nicht an seinem großen Plan. Er gab das Laufen auf zwei Beinen auf und schließlich kam er auch bei Tageslicht nicht aus seinen Nest. Eine große Dunkelheit hatte sich über seinen Geist gelegt und er saß Tag und Nacht in seinem Nest und brütete vor sich hin. Sein Gesundheitszustand war mittlerweile besorgniserregend, doch das kümmerte ihn nicht. Er war wütend auf sich selbst und fand, dass er es nicht wert war, am Leben zu bleiben, wenn er seine Bestimmung nicht erfüllte. Wenn seine Träume unerreichbar waren, wozu dann überhaupt noch weitermachen? Und so dämmerte er vor sich hin und wartete auf den Tag, an dem endlich alles vorbei war.

Tag und Nacht hörte er die Stimme seiner Mutter im Kopf, die ihm sagte, dass er zufrieden sein sollte, mit dem was er hatte. Dass er einfach zu seinem alten Leben zurückkehren sollte. Dass es auf dieser Welt nun mal nicht mehr zu tun gäbe, als zu fressen und zu schlafen und dass das auch vollkommen ausreichend war, um glücklich zu sein. Und der Igel hasste sich selbst dafür, dass ihm das nicht genügte.

Was genau stimmte nicht mit ihm?

Eine ganz besondere Nacht

Eines Nachts war der Igel so furchtbar hungrig, dass er sich trotz seiner Sorgen auf die Suche nach Futter machte. Es war ziemlich schwach auf den Beinen und torkelte ein bisschen durch die Gegend, doch seine hervorragende Nase trog ihn nicht und bald füllte sich sein schmerzender Magen mit saftigen Insekten. Aaaah, das tat gut!

Doch der Schatten, der ihn befallen hatte, lauerte noch immer irgendwo zwischen seinen Augen und wartete auf den richtigen Augenblick. Und der Igel wusste, dass ihm noch immer etwas fehlte und dass ihn dieses merkwürdige Loch in seinem Inneren bis in alle Ewigkeit verfolgen würde. Missmutig erreichte er den Zaun, der das Ende seines Reviers markierte und wollte gerade umdrehen, als er etwas bemerkte.

Die Gelegenheit

Da war ein Loch im Zaun. Eines, das zuvor noch nicht dagewesen war.

Der kleine Igel stutzte. Neue Löcher waren unheimlich, so hatte er es von seiner Mutter gelernt. Und normalerweise hätte er jetzt ganz schnell die Augen zugemacht, sich umgedreht und ein paar fette Maden gefressen, um das Loch zu vergessen. Doch heute war es anders. Das Monster in seinem Inneren rumorte und eigentlich war es ja vollkommen egal. Was sollte schon noch Schlimmes passieren?

So nieste er einmal entschlossen, nahm zur Sicherheit ein bisschen Anlauf und stolperte durch das Loch.

Auf der anderen Seite sah es gar nicht so viel anders aus. Er stand in einem zweiten Garten. Dieser war größer als sein eigener und ein vielversprechender Duft nach Käfern stieg ihm in die Nase.

Während er sich so seinen Weg durch den Garten schnüffelte und schmatzte, hörte er ganz plötzlich ein Stimmchen hinter sich.

Eine unerwartete Begegnung

„Wie machst du das nur?“

Der Igel erschrak ganz furchtbar und stellte alle Stacheln auf. Doch als er sich ganz langsam umdrehte, saß vor ihm nur ein anderer Igel. Eigentlich war es eher ein Igelchen, ein Jungtier und es sah gar nicht gut aus. Es war noch dünner als er selbst und schaute ihn ganz betrübt an.

„Wie machst du das?“, fragte es erneut. „wie findest du so viel zu essen? Hier gibt es doch fast nichts!“

Der Igel sagte nichts und dachte nach. Das war ziemlich merkwürdig. Seiner Wahrnehmung nach gab es hier enorm viel zu essen, und doch war das kleine Igelchen fast am Verhungern.

„Nun ja“ sagte er schließlich zögernd. „Ich schnuppere und dann schnappe ich zu. Es ist eigentlich ganz einfach. Du musst doch riechen, wie viele Käfer hier sind, oder?“

Doch der Kleine machte nur ein jämmerliches Gesicht. „Kannst du es mir zeigen?“, fragte er schüchtern.

Die Gabe und das Licht

Der Igel dachte wieder nach. Nun ja, warum eigentlich nicht? Und er begann dem kleinen Igel zu zeigen, wie er auf die Jagd gehen konnte. Als das Igelchen seine ersten Käfer fing, durchströmte ihn ein unglaubliches Glücksgefühl. Und er verstand plötzlich, dass das, was er die ganze Zeit für selbstverständlich gehalten hatte – seine gute Nase und sein Gespür für die Jagd – tatsächlich eine besondere Gabe war. Es war ihm nur nie aufgefallen, weil es für ihn das Selbstverständlichste auf der Welt war, auf die Jagd zu gehen.

Irgendwann drehte sich der kleine Igel um und seine Augen leuchteten. „Danke“, sagte er und berührte mit seiner Nase ganz sanft das Gesicht des großen Igels. Und da spürte er es. Das Gefühl, das er bei den Menschen gesehen hatte. Es wurde ganz warm und weit in seinem Inneren und das dunkle Loch war endlich verschwunden.

Und der Igel begriff in diesem Moment, dass er an der falschen Stelle nach dem Glück gesucht hatte. Er musste kein Mensch werden, um wichtig und besonders zu sein. Er war am perfekten Ort zur perfekten Zeit und hatte Gaben von denen er bis jetzt noch nichts geahnt hatte.

Alles, was es jetzt noch brauchte, war der Mut, loszugehen und er selbst zu sein.

Ganz sanft erwiderte der große Igel die Berührung des kleinen Igels. Und dann drehte er sich um und ging los.

Deine Marie

6 Comments

  1. So schön!
    Ich bin zwar kein Igel, aber ich kann diese Gefühle durchaus nachvollziehen.
    In deiner Beschreibung, Marie und in der Fabel.
    Auch ich habe lange gesucht und das Naheliegenste nicht gesehen.
    Du bist schon ein paar Schritte weiter und es wird spannend sein zu sehen wie du dich weiter entwickelst.
    Ich freu mich darauf

  2. Uff…jo. Sowas hab ich grad im moment. Das ende einer langen Suche-Geschichte, und grad aktuell Dinge als Gaben entdecken ( wie ich die nutzen kann kommt dann noch🤔) die ich bisher nicht nur für selbstverständlich gehalten hatte, sondern zusätzlich noch negativ belegt hatte. Das Fazit ist derzeit, das das alles noch wesentlich ver-rückter ist als ich jeh geahnt hätte. Nun mal schauen, was ich damit mach😇. Momentan gehts noch um Wortfindung, es in verständlichen Sätzen erzählen können, grob zusammenhängend. Ziel ist es vollständig zusammenhängend schreiben zu können, schlüssig, die logik in der scheinbaren Unlogik sichtbar und verstehbar machen, auch für Andere. 2018 fängt ja erst an, bloß keine Hektik😂

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert